* 7 *

7. In der Schlangenhelling

 

Lucy

»Halt einfach still, klar?«, schimpfte eine aufgebrachte Stimme. »Wenn du nicht aufpasst, fallen wir beide noch ins Wasser.«

»W... was?«, stammelte Septimus und fragte sich, warum sich das Gespenst als Mädchen ausgab. Normalerweise hatten Gespenster tiefe, bedrohliche Stimmen, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen, und keine Mädchenstimmen. Dieses hier musste etwas falsch verstanden haben. Vielleicht war es ein junges Gespenst, überlegte Septimus und schöpfte wieder etwas Hoffnung. Ein junges Gespenst konnte er vielleicht dazu überreden, ihn gehen zu lassen. So oder so, er musste endlich nachsehen, wer oder was ihn festhielt. Mühsam drehte er sich um, und im selben Moment wurde er zurück auf den Außenpfad gezogen.

»Du dummer Kerl. Du kannst von Glück sagen, dass ich dich nicht fallen gelassen habe. Wäre dir ganz recht geschehen«, sagte Lucy Gringe, noch ganz außer Atem, nachdem sie Septimus hochgezogen hatte.

Septimus fühlte sich plötzlich schwach und ganz zittrig vor Erleichterung. »Lucy!«, rief er. »Was tust du denn hier?«

»Dasselbe könnte ich dich fragen, Lehrjunge«, erwiderte Lucy.

»Ich ... äh ... na ja, mir war nach einem Spaziergang«, antwortete Septimus wenig überzeugend.

»Seltsamer Spaziergang«, murmelte Lucy. »Da könnte ich mir schönere Plätzchen vorstellen. Los, geh weiter, und mit ein bisschen Tempo, oder willst du hier übernachten? Das will ich nicht hoffen, denn du versperrst mir den Weg, und ich habe noch was vor.«

Mangels einer anderen Möglichkeit setzte sich Septimus in seinem Schlurfgang wieder in Bewegung. Er hörte Lucy ungeduldig hinter sich schnaufen. »Geht es nicht ein bisschen schneller? In dem Tempo brauchen wir ja die ganze Nacht.«

»Ich gehe so schnell ich kann. Und überhaupt, wieso hast du es denn so eilig? Wohin willst du? Iiiiih!« Septimus rutschte mit dem Fuß weg, doch Lucy packte ihn und stellte ihn wieder hin wie ein Spielzeug zum Aufziehen.

»Geht dich nichts an«, antwortete sie. »Das geht niemanden etwas an. Der Weg wird jetzt breiter, du kannst also einen Zahn zulegen.«

Der Außenpfad wurde tatsächlich breiter, und erleichtert stellte Septimus fest, dass seine Stiefel besseren Halt fanden. »Du gehst nicht zum ersten Mal hier lang, stimmt’s?«, fragte er.

»Schon möglich«, antwortete sie. »Geht es nicht noch schneller?«

»Nein. Also, wieso nimmst du den Außenpfad? Weil du nicht willst, dass Gringe – ich meine, dein Vater – erfährt, wohin du gehst?«, fragte Septimus, dem ein Verdacht kam.

»Es geht dich einen feuchten Kehricht an, was ich tue oder wohin ich gehe«, fuhr ihn Lucy an. »Beeile dich gefälligst.«

»Wieso?«, fragte Septimus und ging absichtlich langsamer. »Warum soll Gringe nicht erfahren, wohin du gehst?«

»Mensch, du gehst mir auf die Nerven. Jetzt versteh ich, wieso Simon dich einen kleinen, unausstehlichen ...« Lucy verstummte mitten im Satz, doch es war zu spät.

Wieder blieb Septimus abrupt stehen, und Lucy lief von hinten auf ihn auf. »Du willst zu Simon, stimmt’s?«, fragte er.

»Was soll das? Du dummer Kerl. Fast wären wir deinetwegen in den Burggraben gestürzt.«

»Du willst zu Simon, stimmt’s?«, wiederholte Septimus. »Deshalb gehst du hier lang. Damit dich keiner sieht. Du weißt, wo er ist, habe ich recht?«

»Nein«, antwortete Lucy gereizt. »Und jetzt geh weiter.«

»Ich mache keinen Schritt mehr, bis du mir sagst, wo Simon steckt«, beharrte Septimus und rührte sich nicht vom Fleck.

»Dann bleiben wir eben die ganze Nacht hier«, erwiderte Lucy, ebenso stur.

Die beiden standen mit dem Rücken an der mächtigen Ringmauer, die hoch in die Nacht ragte. Keiner wollte nachgeben. Die Pattsituation dauerte mehrere Minuten, da hörten sie plötzlich in einiger Entfernung hinter sich leises Schlurfen, gefolgt von einem Geräusch, als sei ein Stein aus der Wand gebrochen und ins Wasser geplumpst.

»Hör zu, Septimus«, flüsterte Lucy heiser, »hier draußen sind wir nicht sicher. Der Pfad wird von Gespenstern benutzt – ich hab mit eigenen Augen welche gesehen. Wir müssen schleunigst zur Schlangenhelling. Dort können wir weiterreden, einverstanden?«

Septimus ließ sich nicht lange bitten. »Einverstanden.«

Zehn Minuten später hatten Septimus und Lucy einen besonders tückischen Teil des Pfads unterhalb des Wachturms am Osttor hinter sich gebracht und näherten sich der Schlangenhelling, als Septimus ohne Vorwarnung stehen blieb. Lucy trat ihm mit ihren schweren Stiefeln in die Hacken. »Autsch!«, stöhnte Septimus leise.

»Hör doch endlich auf, ständig stehen zu bleiben«, zischte Lucy erbost.

»Aber ich dachte, ich hätte ein Licht gesehen«, flüsterte Septimus. »In der Schlangenhelling.«

»Prima«, zischte Lucy zurück. »Dann können wir wenigstens sehen, wohin wir gehen.«

Septimus ging weiter. Sekunden später vernahm er ein leises Klatschen, und das Licht erlosch. Fast wäre er wieder stehen geblieben, doch diesmal besann er sich anders. »Hast du das Klatschen gehört?«, flüsterte er.

»Nein. Aber bald wirst du eine Nervensäge deiner Größe ins Wasser klatschen hören, wenn du so weiterplapperst, Septimus Heap.« Lucy versetzte ihm einen scharfen Stoß in den Rücken. »Und jetzt beeil dich.«

Froh bei dem Gedanken, keine Schwester wie Lucy zu haben, hastete er weiter.

Bald stiegen Septimus und Lucy die schmale Steintreppe hinab, die zur Schlangenhelling führte. Kaum unten angekommen, vernahmen sie den gedämpften Ein-Uhr-Glockenschlag der Gerichtsuhr in der stillen Nachtluft. Septimus sah sich um, aber es war, wie er erwartet hatte – keine Spur von Marcellus Pye.

Plötzlich überkam ihn große Müdigkeit, und er gähnte. Lucy ließ sich von seinem Gähnen anstecken und zitterte vor Kälte. Sie zog einen langen Schlüssel aus einer ihrer vielen Taschen und schlang den Mantel enger um sich. Septimus hatte das Gefühl, den Mantel schon einmal irgendwo gesehen zu haben, konnte sich aber nicht entsinnen, wo. Für Lucys Verhältnisse war er überraschend schön. Die Gringes waren keine wohlhabenden Leute. Lucy nähte sich ihre Kleider normalerweise selbst und lief in klobigen braunen Stiefeln herum, die so aussahen, als seien sie ihr eine Nummer zu groß. Und ihre langen braunen Zöpfe waren stets mit selbst gemachten, leicht schmuddligen Bändern und Kordeln geschmückt. Aber wie dieser dunkelblaue Mantel von ihren Schultern wallte, das sah elegant und vornehm aus.

Freilich trug Lucy auch noch ihre großen braunen Stiefel. Und mit denen stapfte sie jetzt zu dem breiten Tor des Schuppens, in dem ihr Bruder Rupert, wie Septimus wusste, die Schaufelboote aufbewahrte, die er im Sommer vermietete. Mit geübter Hand drehte sie den Schlüssel im Schloss, stieß das Tor auf und verschwand. Septimus lief ihr nach.

Im Bootshaus war es dunkel. Septimus steckte sich den Drachenring wieder an den Finger. Bald erfüllte dessen matter gelber Lichtschein das Innere des Schuppens, und Septimus sah, dass Lucy gerade dabei war, ein Schaufelboot auf einen kleinen Handwagen zu ziehen.

»Verschwinde«, zischte sie, als sie bemerkte, dass er ihr gefolgt war.

»Du willst dich mit Simon treffen, stimmt’s?«, fragte Septimus.

»Kümmere dich um deinen eigenen Kram«, erwiderte sie und versuchte, das überraschend schwere Boot auf den Wagen zu hieven, doch vergebens. Septimus hob das Boot am anderen Ende an, und gemeinsam schafften sie es. »Danke«, keuchte Lucy, während Septimus den Wagen am Griff fasste und das Boot aus dem Schuppen ziehen half.

Gemeinsam rollten sie das knallrosa gestrichene Schaufelboot die Helling hinunter bis zum plätschernden Wasser des Burggrabens, ohne zu bemerken, dass sie von einer Geistergestalt mit spitzer Nase und missbilligendem Gesichtsausdruck aus dem Dunkeln beobachtet wurden. Während Septimus den Wagen ins Wasser schob, damit das Boot frei schwimmen konnte, klopfte Königin Etheldredda mit ihrem Geisterfuß ärgerlich und geräuschlos auf den Boden.

Septimus gab Lucy die Bootsleine zum Halten, dann rollte er den Wagen wieder die Helling hinauf und zurück in den Schuppen. Als er an Königin Etheldredda vorbeikam, funkelte sie ihn wütend an und zischte leise: »Pünktlichkeit ist eine Zier, Unpünktlichkeit ein Laster, Junge.« Doch Septimus hörte nichts, denn die Räder des Wagens quietschten zu laut.

Er kehrte zu Lucy zurück. Unter betretenem Schweigen nahm er die Leine und hielt das Boot fest, damit sie einsteigen konnte. Sie setzte sich, und dann hob sie zu seiner Überraschung den Kopf und lächelte ihn gequält an: »Eigentlich bist du gar nicht so übel«, sagte sie widerstrebend und griff zu den Kurbeln, mit denen man Ruperts seltsame Schaufelräder antrieb.

Septimus sagte nichts. Lucy hatte etwas an sich, das ihn an seine Großtante Zelda erinnerte, und er hatte gelernt, sich in Geduld zu üben, wenn er von Tante Zelda etwas Bestimmtes hören wollte, denn Tante Zelda war stur, und Lucy Gringe anscheinend auch. Also wartete er geduldig, denn er spürte, dass Lucy etwas auf dem Herzen hatte.

»Simon und ich wären fast getraut worden«, platzte sie plötzlich heraus.

»Ich weiß«, sagte Septimus. »Mein Vater hat es mir erzählt.«

»Alle haben etwas dagegen, dass wir heiraten«, fuhr Lucy fort. »Ich weiß nicht, warum. Das ist so gemein.« Septimus wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. »Und jetzt hassen alle Simon, und er kann nicht zurückkommen, und das ist noch gemeiner.«

»Na ja, immerhin hat er Jenna entführt«, gab Septimus zu bedenken. »Außerdem hat er versucht, Nicko, Jenna und mich umzubringen. Und um ein Haar hätte er das Drachenboot zerstört. Von Marcia ganz zu schweigen – er hat sie mit dieser Platzierung so gut wie erledigt, und dann hat er noch ...«

»Schon gut, schon gut«, unterbrach ihn Lucy barsch. »Wie kann man nur so kleinlich sein.«

Wieder herrschte betretenes Schweigen, und Septimus gelangte zu der Einsicht, dass aus Lucy nicht mehr herauszubekommen war. Er ließ das Boot los und stieß es auf den Burggraben hinaus.

»Wenn du Simon siehst«, sagte er, »kannst du ihm ausrichten, dass er hier nicht willkommen ist.«

Lucy streckte ihm die Zunge heraus, dann griff sie zu den Kurbeln und begann, die Schaufelräder zu drehen. Bei dem Anblick war Septimus nicht wohl. Diese Boote waren Sommerboote und nur zum Vergnügen da, und Lucy in einer kühlen, nebligen Herbstnacht in so einem Ding hinausfahren zu sehen, war ein komisches Gefühl. »Gute Fahrt!«, rief er ihr nach. »Wo sie auch hingehen mag.«

Lucy blickte zurück. »Ich weiß nicht, wo Simon ist, aber er hat mir einen Brief geschrieben, und ich werde ihn finden, so!«

Lucys rosa Schaufelboot fuhr um die Biegung und entschwand seinem Blick. Eine Weile blieb Septimus auf der Helling stehen und lauschte dem Glucksen der Schaufelräder, die Lucy in Richtung Fluss beförderten.

Er wollte gerade den Nachhauseweg einschlagen, da bemerkte er es – Feuer unter Wasser.

Septimus Heap 03 - Physic
titlepage.xhtml
Septimus Heap 03 Physic 01_split_000.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_001.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_002.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_003.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_004.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_005.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_006.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_007.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_008.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_009.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_010.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_011.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_012.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_013.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_014.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_015.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_016.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_017.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_018.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_019.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_020.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_021.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_022.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_023.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_024.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_025.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_026.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_027.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_028.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_029.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_030.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_031.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_032.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_033.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_034.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_035.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_036.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_037.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_038.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_039.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_040.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_041.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_042.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_043.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_044.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_045.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_046.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_047.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_048.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_049.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_050.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_051.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_052.html
Septimus Heap 03 Physic 01_split_053.html